Portrait
"Müsst Ihr Eure Augenringe jetzt schon mit Henkeln befestigen?"
 
Bückeburg. Auch wenn er nur knapp einen Meter sechzig mißt -- in der Gunst sowohl des Publikums wie auch seiner Künstlerkollegen ist Hajo Dreyfuß ein ganz Großer: Zum ersten Mal seit dem Expo-Jahr 2000 stand der gebürtige Berliner wieder auf dem Plane beim großen Mittelalterlich Spectaculum. Als Dreyfuß, der Narr, brachte der 43jährige mit der unverkennbaren Eselsgewandung und dem großen Schellenstab die Marktbesucher zum Lachen und zum Nachdenken.
 Foto
Zeigt her eure Hände:
Hajo Dreyfuß geht auf die Zuschauer zu und spielt mit ihnen.
Zu den Mittelaltermärkten kam Hajo Dreyfuß auf Umwegen: Nach einer erfolglosen Ausbildung zum Verwaltungsangestellten ("Ich merkte irgendwann, dass das nichts für mich war, und das merkten meine Arbeitgeber auch.") lernte er 1983 in einem Presse-Café am Bahnhof Zoo den Regisseur und späteren Intendanten Hans Neuenfels kennen, der ihn praktisch vom Fleck weg engagierte. Nach einigen kleineren Theater- und Filmrollen sowie anderthalb Jahren Schauspielunterricht im Michael-Tschechow-Studio Berlin packte ihn die Leidenschaft für das Mittelalter -- Dreyfuß, der Narr, war geboren.
Seinen unverkennbaren staksigen Gang hat Hajo Dreyfuß jedoch nicht einüben müssen: Im Alter von drei Wochen erkrankte er an Polio. "Ich bin mit ziemlicher Sicherheit der jüngste Fall von Kinderlähmung. Leider lassen sich die Krankenhausunterlagen nicht mehr nachvollziehen, sonst wäre wahrscheinlich sogar ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde drin." Als Behinderter habe er vor der Kulisse des Mittelalters drei Rollenprofile zur Auswahl gehabt: einen Kriegsveteranen, einen Bettler und eben den Narren. "Das Schicksal von Behinderten, gerade im Mittelalter, ist die Schadenfreude der anderen. Nur der Narr ist schneller, er bringt die Leute vorher zum Lachen."
Spaß auf Kosten anderer ist jedoch seine Sache nicht: "Auch wenn andere damit Erfolg haben mögen -- ich bin so arrogant zu sagen, daß ich das nicht brauche." Die Rolle des Narren gebe ihm die Fähigkeit, auch mit schwierigen, traurigen oder konfliktbeladenen Situationen umzugehen: "Ich lerne ständig vom Narren."
Walk-Act nennt sich seine Art des Spiels, wenn er auf dem Spectaculum Menschen direkt anspricht. Es ist mit Abstand eine der schwersten Formen des Theaters, denn der Narr auf dem Plane ist Darsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Souffleur in einer Person, und seine "Mitspieler" wissen zuvor nichts von ihrem Glück. "Jungfer, man hat Euch Euren Rock geklaut", warnt er eine junge Spectaculumsbesucherin in langen Hosen. Einem Brillenträger unterstellt er, die letzte Nacht gefeiert zu haben: "Müßt Ihr Eure Augenringe jetzt schon mit Henkeln befestigen?" Einer Tätowierung entnimmt der Narr, sein Träger müsse wohl das Kind eines Malers sein, dem die Leinwand ausging. Den Anblick eines Mannes mit Kinderwagen interpretiert Hajo Dreyfuß als wahren Fortschritt der Emanzi-Pizza: "Er wollte lieben, nun darf er schieben." Viel Platz für innere Werte diagnostiziert er bei einem übergewichtigen Marktbesucher. Und mit lautem Aufschrei quittiert der Eselsohrenträger den Überflug eines Segelflugzeugs vom benachbarten Segelflugplatz Röcke: "Seht, ein Zeichen, ein Kruzifix am Himmel..."
In diesem Jahr umfaßte Hajo Dreyfuß' Engagement nur eines der insgesamt drei Spectaculum-Wochenenden. Der Abschied am Sonntag Abend fiel dem Berufsnarren umso schwerer, da in der Rangliste seiner Auftrittsorte Bückeburg schon seit Jahren unangefochten die Pole-Position führt: "Die große Wiese, die historische Kulisse mit dem Schloß und dem Mausoleum und die Natur darum sind schlicht perfekt. Auch das Publikum hier ist großartig." Ein Wiedersehen ist sehr wahrscheinlich: Für Veranstalter Gisbert Hiller jedenfalls spricht nichts gegen ein neues Engagement des Wahl-Münsteraners im nächsten Jahr.

 
Landes-Zeitung
26.07.02
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Text   Johannes
Pietsch
& Bild: