Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
Ein Feuilleton von hajo. Dreyfuß
   
Schöne bunte Werbe-Welt
 
Die persönlichen Anrufe sind unregelmäßig, nicht aber das Fax. Die Briefe tragen meinen Namen, das wöchentliche Magazin besteht zur Hälfte daraus, im Briefkasten landet sie pfundweise, kein guter Film geht heutzutage noch ohne, und auch in meiner Mailbox tummelt sie sich gar lustig: Die viele bunte Werbung.
Während ich mir die vielen freiwilligen Mails anschaue, die ich da auf eigene Kosten heruntergeladen habe, schauen diese Mails mich an. Sie flüstern miteinander, und einige schicken liebe kleine Grüße nach Hause. Die kleinen Mails und Cookies kennen mich vermutlich schon lange viel besser als ich.
Und das erwarten sie zu sehen, wenn sie mich anschauen:
Ganz offensichtlich bin ich ein gut betuchter, aber einsamer Mann mit einer kleinen verzeihlichen Schwäche: Wenn ich etwas Neues sehe, muß ich es haben.
In den Arbeitspausen kam ich noch vor einigen Monaten kaum zum Essen, weil ich stets mit dem neuesten Handy per SMS die angesagtesten Flirt-Lines durchchatten mußte -- bis dann zwei exorbitante Telephon-Rechnungen und eine Sehnenscheiden-Entzündung am rechten Daumen diesem Spiel ein jähes Ende setzten. Seit dem zweiten Mahnbescheid für mobile Kommunikation läßt man mich mit diesem Thema denn auch diskret in Ruhe.
Die meiste Freizeit verbringe ich natürlich vor Bildschirmen. Wenn ich nicht fernsehe, surfe ich. Besonders gerne natürlich in den vielen langen Werbe-Pausen.
Daher interessieren mich auch besonders günstige Angebote, wie ich für nur wenige hundert Dollar noch viel mehr Werbung auf noch viel mehr Kanälen empfangen kann. Am liebsten über Satellit, denn das Antennen-Kabel brauche ich ja demnächst zum Surfen.
In den endlosen Weiten des Internet interessiert mich hauptsächlich eines: Sex.
Ich möchte allabendlich stundenlang Kaskaden von spärlich bekleideten jungen Damen auf mich einprasseln lassen, während ich dem freundlichen Link aus einer eMail folge, um endlich das seit einem Jahr neueste Skandal-Video der Sex-Göttin oder Pop-Ikone zu finden. Ich bin begierig, mich an möglichst viel Haut von Promminenten, Super-Models und Star-Sportlerinnen zu ergötzen. Falls ich derlei mal wieder nicht völlig kostenlos finden sollte, kann ich mir immer noch das absolut private Heim-Porno-Video von Geschwistern wildfremder Leute ansehen, während ich eine meiner online erworbenen Kreditkarten heraussuche. Bald werde ich Mitglied im hundertsten exclusiven Erotic-Club sein, und ich freue mich schon auf die Glückwünsche.
Meine Besessenheit hat einen guten Grund: Ich bin nicht mehr ganz der Jüngste, und leider sehe ich im Vergleich mit den Stars auch nicht besonders gut aus. Die langen Nächte vor dem Computer tun ihr Übriges. Etwas "Wellness" täte mir wirklich gut. Wie praktisch sind da doch die Cremes und Pillchen, die meinen kurzen Schlaf zum Jungbrunnen gestalten, während ich gleichzeitig endlich abnehme, meine Haut entfalte und dank der Hypnose-CD zufrieden erwache.
Eigentlich müßte ich schon längst erfolgreich und nachgerade widerlich glücklich sein. Wenn es da nicht im Hintergrund ein kleines heimliches Problemchen gäbe. Ich bin nämlich etwas schüchtern, weil ... also, weil nämlich ... es ist genaugenommen so ... Ich habe nämlich einen etwas zu kurzen Penis. Der Kleine hält auch nicht eben lange durch. Was dann herauskommt, ist erschreckend wenig. Und das ... Das hemmt ungemein. Und deswegen gehe ich auch so wenig aus und sitze so lange vor irgend einer blöden Röhre herum. Nur darum.
Natürlich würde ich das nicht in der Kantine erzählen. Staddessen besorge ich mir Pillen, Kapseln, Salben, Kräutleins und asiatische Spezial-Präparate aus der Online-Apotheke: Zum halben Preis natürlich, und ganz diskret. Während all die Mittelchen ihre Langzeitwirkung tun, übe ich daheim schon mal heimlich für den Erstfall mit V1@gr.a (nur, um damit keine Überraschungen zu erleben). Das macht mich zu später Stunde etwas aktiver, als ich eigentlich möchte, aber dafür habe ich ja zum Einschlafen meine kleinen abendlichen Downer. Die gehören inzwischen zu meinem Tag wie die morgendlichen Wachmacher, wenn die "Schlafend zum Erfolg in Harmonie mit dem Universum"- CD mal wieder viel zu gut gewirkt hat. Die wenigen Anti-Depressiva nehme ich wirklich nur zur Eindämmung der geringfügigen Nebenwirkungen, ehrlich.
Zwar habe ich meinen zweistelligen IQ nur um einen Punkt steigern können, aber mein Selbstbewußtsein ist inzwischen dennoch immens gewachsen. Ich habe mir vorgenommen, die Kollegin mit den kleinen Brüsten anzubaggern. Vermutlich hat die nämlich auch Komplexe und traut sich nicht. (Vielleicht sollte ich ihr ja mal heimlich meine kleine Werbe-Sammlung mit Vergrößerungs-Präparaten forwarden. Warum sonst schickt man die mir zu, und nicht gleich ihr?) Natürlich bin ich auf den bevorstehenden Flirt gut vorbereitet, habe vier teure Online-Kurse absolviert und drei verschiedene Pheromon-Präparate in verschiedenen Duftnoten parat.
Nur schade, daß mein Budget so begrenzt ist.
Ich werde sie wohl nicht oft ausführen können:
Die Glücksspiele haben außer Kosten nichts eingebracht, das Geld für "Surf-and-Vote" deckt kaum die Online-Kosten (vielleicht hätte ich mir etwas weniger Filme ziehen sollen), die drei aktuellen "Get-Rich-Quick"-Systeme laufen seit zwei Jahren deutlich dröger als erwartet, und ein beachtlicher Teil meines bescheidenen Vermögens steckt nun einmal fest in amerikanischen Aktienfonds, die demnächst wieder steigen sollen.
Zudem haben ein paar aufmerksame Zeitgenossen mitbekommen, daß ich inzwischen schon längst die meisten Wundermittel habe und deren weitere Anpreisung hier eigentlich überflüssig ist. Zwar sind die Angebote dafür nicht weniger geworden (und ich weiß ein filterbrechendes Sonderangebot für eine weitere Packung V´l`A.G'R*@  durchaus zu schätzen, aber drei Großpackungen sind genug). Endlich gibt es neue Werbung, und sogar für eine neue Art von Waren. Kurz nachdem ich mir solch ein werbefinanziertes Anti-Spam-Tool bestellte, fand ich eine seltsame Mail mit einem noch seltsameren Anhang, die mich neugierig machte. In dem Anhang steckte ein Dialer. Und der half mir, in sehr kurzer Zeit sehr viel von meinem ersparten Geld auszugeben. Naja, wer ständig nur vor dem Bildschirm hockt, kommt eben kaum zum Shoppen.
Aber das macht mich nicht bange: Ich bekomme täglich ein gutes Dutzend Angebote für wirklich günstige Kredite. Und die schaue ich mir demnächst mal genauer an. Schließlich will ich meine Kollegin beeindrucken können ...
Das also sehen die Mails in mir, während sie am liebsten noch minutenlang bunte Bildchen und Animationen laden würden und manchmal leise maulen, wenn auch ihre infektiösen Anhängsel leider draußen warten müssen.
So hätten sie mich gerne.
Und ich schaue mir das bunte Gewusel an. Für die Dauer eines Jahres sogar sehr genau: Anno Domini 2oo3 füllte sich der kleine Ordner "Spam" zu einer stattliche Sammlung von 32.130 Zusendungen virtuellen Kaufreizes mit enormer Wachstums-Rate: Wofür es zu Beginn noch einen ganzen Monat brauchte, das fand sich zum Schluß in kaum einer Stunde ein.
Nachdem das Jahr nun endlich herum ist, greife ich zur virtuellen Feder und verfasse diesem schmucklosen kleinen Brief:
 
Liebe Dame Spam,
laß mich Dir danken: Es war schön mit Dir. Du hast mich oft erheitert und mit Deiner gespielten Naivität mein Gemüt erhellt.
Daher war es mir eine Freude, Dein possierliches Treiben wieder einmal für ein Jahr ganz genau zu verfolgen. Ich weiß es sehr zu schätzen, daß Du mir in immer neuen Etüden Deinen Einfallsreichtum erzeigt und mich dabei oftmals gut unterhalten hast (auch wenn Du manchmal etwas infektiös warst und dann schusselig wurdest und zu mehr Wiederholungen neigtest als sonst).
Doch diese schöne Zeit geht nun ihrem Ende zu. Während des vergangenen Jahres ist nämlich nicht nur unsere tiefe Beziehung gewachsen, sondern leider auch Dein Umfang. Ja, Du bist gewachsen, sogar sehr: Aus dem verführerischen kleinen verdorbenen Ding wurde in nur einem halben Jahr ein lüsternes Vollweib, das weiß, was es von mir will -- und schon erschreckend kurz drauf eine dralle Dame, die stündlich dutzendfach kommt.
Verstehe mich nicht miß: Vereinzelt ist es stets eine Lust und ein Hochgenuß für uns beide, wenn Du kommst. Aber da Du das inzwischen alle fünf Minuten willst, muß ich Dir gestehen: Das hält selbst der stärkste Mann nicht lange durch -- auch nicht mit "~V-i-@..(DuWeißtSchon)" .
Dank Deiner unablässigen und wachsenden Mühen lebe ich schon seit ein paar Jahren sehr zufrieden ohne Fernseher. (Du weißt es bestimmt noch. Damals schon sagte ich zu Dir: "Du machtest Dich allmählich zu breit"). Nun trennen sich in zwei weiteren Bereichen unsere Wege. Schon blähen sich Deine einst verlockenden Rundungen bedrohlich, und mir graust vor Dir. Daher nehme ich jetzt Abschied. Ich möchte es nicht sehen, wenn Du platzt.
Allerdings werde diesmal nicht ich gehen. Diesmal bist Du dran.
Während ich gestern leise ächzend 19,273 Kilogramm Briefkasten-Werbung neuer Verwertung zuführte und exakt 184.119 KiloBytes Daten-Müll (im Wert von nur 8.243 Cent) ins Große Daten-Nirvana verbrachte, überkam mich ein wundersames Gefühl, das ich zunächst irrtümlich für Wehmut hielt. Doch dann erkannte ich, daß es ein fettleibiger Albdruck war, der im Gehen stattliche 203.392 Kilopond Unmutes von mir nahm.
Seitdem mich dieser Druck verließ, lebe ich wesentlich unbeschwerter. Und das verdanke ich Dir. Ohne Deine vielen kleinen dreisten Anbiederungen wüßte ich ja gar nicht, wie leicht das Leben ohne Dich sein kann: Mein Briefkasten ist mit nur einem Aufkleber in nur vier Wochen schon rund drei Pfund leichter, und meine Mailbox schafft dank einiger Diät-Filter sogar täglich rund 1.5oo KiloBytes (Tendenz steigend). Und bei alldem spare ich auch noch Zeit und Geld.
Du siehst: Ich habe von Dir gelernt. Ich kenne Deinen Tonfall. Deshalb habe ich mir aus tiefer Dankbarkeit eigens für Dich einen Slogan einfallen lassen, der (wenn Du ihn beherzigen wolltest) sehr viele Menschen wirklich froh machen kann:
Schaff Dich ab!
 
Und nun Adieu. Es heißt nun scheiden.
Ich werde Dich gewiß nicht vergessen.
 
 
mit fernem Winken
 
hajo.
 
Januar 2004