Ansichten eines  fast  normalen Bürgers

2005 – ein flüchtiger Rückblick

•  Auch im Einstein-Jahr beinhaltete die Jahres-Widmung eine thematisch orientierte Drohung. Damit Genies nicht etwa zur Massenware verkommen, wurde intensiv dafür vorgesorgt, daß es hierzulande schon bald die beste Bildung gibt, die man mit Geld bekommen kann.

•  Noch immer geisterte ein Satz ziellos durchs Land: "Wir sind wieder wer." Fein. Aber wer? Das Angebot war üppig. Im Laufe des Jahres waren wir also Papst, Kanzlerin, Deutschland, zu guter Letzt sogar Geiseln, und natürlich wurden wir auch wieder Weltmeister (beim Männerfußball immerhin künftiger -schaftsausrichter).

•  Die Bundeswehr wurde 50. Als sie sich im sicheren Windschatten des Reichstags zum großen Fest-Akt einfand, fehlte der Friedensarmee eigentlich nur noch eine jubelnde Menschenmenge zu ihrem Glück. Also strich sie sich eben selbst den Zapfen. Und lernte, daß man ab 50 in diesem unserem Lande nicht mehr sehr angesagt ist.

•  Die Politik bescherte uns mit Hartz IV. einen Schutzpatron der Verarmten und als Prozession dazu endlich wieder Montags-Demos. Da inzwischen jedoch der Osten längst zum Westen geworden war, fiel die Revolution im Osten wegen Ortsmangel aus. Zum Trost bekamen wir im Wonnemonat Mai einen Kanzler, der ordentlich abgewählt werden wollte, hernach eine SPD, die kräftig auf die Linken schimpfte, dazu eine Steuerreform, die sofort zusammen mit dem ganzen Kirchhof begraben wurde, dann einen abgewählten Kanzler, der genau deswegen nun auch Kanzler bleiben wollte, und schließlich eine große Koalition (deren beide Parteien stolz von sich sagen können, daß sie zwei Drittel der möglichen Stimmen nicht bekommen haben), angeführt von einer modischen, wohlfrisierten Kanzlerin, die sogar lächeln kann.

•  In der Wirtschaft ging es daraufhin merklich bergauf: Der DAX stieg kometenhaft, die Gewinne zogen kräftig mit, und folglich verkündete eine Reihe von Arbeitgebern voller Dank, dem Arbeitsmarkt in Kürze einige zehntausend Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.

•  Die Rechtschreibreform setzte ihren Siegeszug fort. Im August wurden "die unstrittigen Punkte" verbindlich. Als "unstrittig" galt den Kultus-Ministern auch, wozu der eigene Rechtschreibrat Änderungsvorschläge angekündigt hatte. Ein kleiner Rest (Groß oder klein? Zusammen oder aus ein an der? Wohin mit dem Komma?) ward vertagt. Und damit die meisten der Fragen, mit denen die zwingende Notwendigkeit zur Reform dereinst begründet wurde. Allerdings ging es ja nie wirklich um einfache, einheitliche Regeln oder etwa leichteres Lernen. Stattdessen wurde klargestellt, daß der Staat beim Schreiben das Sagen hat. Dieses neue Herrschaftsgebiet wird er nicht mehr freiwillig verlassen. – In der Schule derweil lernt das Kind weiterhin fürs Leben, genau das zu tun, was den Chefs gefällt (es gilt das Wörterbuch der jeweiligen Lehrkraft), und privat nach eigenem Gutdünken zu handeln (zB in eMails ganz zwanglos BinnenMajuskeln zu verwenden).

•  Apropos Schulen: Hier bewiesen die deutschen Länder bei der weltanschaulichen Neutralität gesetzgeberisches Augenmaß. Mancherorts erblickte das Auge in Kopftüchern ein Symbol für Ausgrenzung und Spaltung, und das andere Auge erkannte Habit und Kipa derweil als historisch gewachsenen Ausdruck abendländischer Kultur. Manche Länder schauten auf Bekenntnisfreiheit, andere sahen Beamte gern bekenntnisfrei, wieder andere schauten einfach weg. • Anstelle eines bundesweiten Pflichtfachs, das künftigen mündigen Staatsbürgern sowohl Philosophie, Ethik als auch bedeutende Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt nahebringt – und damit kulturelles Verständnis emöglicht – vertstärkte sich der Trend zum getrennten Religionsunterricht. Abgrenzung blieb wichtiger als ethische Erziehung oder Integration. • Derweil wurde erstmals ernsthaft diskutiert, ob Evolutionslehre und Kreationismus als gleichwertige Thesen zu behandeln sein könnten. • Immerhin blieb die Lesekompetenz (also das Erfassen geschriebenen Sinnes) im internationalen Vergleich konstant, nämlich miserabel.

•  Nachdem wir die Botschaft der Langzeitkampagne "Deutschland steckt in der Krise und braucht Reformen" endlich gefressen hatten und also wunschgemäß pessimistisch waren, sollten wir plötzlich umdenken und zuversichtlich werden: Die Medienkampagne "Du bist Deutschland" erklärte uns (vielfältig und freundlich duzend), daß es einzig und allein an uns selbst liegt, ob wir Ziele haben und erreichen. Unser Land, erfuhren wir zudem, brauche unsere Hilfe. Meckern und Ansprüche dürften da ruhig mal zurückstehen. Angesichts der neuen Rekorde im Geburtenrückgang und einem sicheren Platz in den "Top5" bei den Arbeitslosenzahlen wurde uns gleichzeitig die "geistig-moralische Wende" schmackhaft gemacht: Zurück zu guten alten Werten. Ziel ist die flexible Familie, die aufgeklärten Glaubens umzugsfreudig ihre Heimat liebt.

•  In den USA sorgte ein republikanischer Senator dafür, daß seit Dezember kein anständiger Amerikaner mehr selbst foltern muß, während die CIA die Flugreisen potentiell Verdächtiger im Ausland künftig wohl wieder ordentlich als "Hackfleisch-Transport" deklarieren wird.

•  Die Katastrophe des Jahres fand endlich wieder im Ausland statt (wo sie anständigerweise auch hingehört). Mochten auch die Feuer lichterloh wüten, uns stand der Sinn nach Tsunami. Als der ausblieb, wurde Tornado Katrina unsere Favoritin, die halb New Orleans unter Wasser setzte. Als dann allerdings die amerikanische Regierung die Hilfe aus Deutschland dankend ablehnte, die sie selbst nicht zuwege brachte, blieb dem enttäuschten Spenderherz immerhin noch ein pakistanisches Erdbeben vergönnt.

•  Der Skandal des Jahres hieß "Gammelfleisch". Von 'umdeklariert' über 'ungenießbar' bis hin zu 'verrotet' gab es mehrere hundert Tonnen Beweise dafür, daß unsere schöne saubere Welt an einigen Punkten dringend humorloser Kontrollen bedarf. Daß das zuständige Ministerium dies nicht als versuchte biologische Kriegsführung verstand, sondern mit einer beschwichtigenden Selbstverpflichtung der Innungen und Betriebe gerne zufrieden war, belegt hinreichend, wie Kostenbewußtsein, Kompetenz und Sinn für Verantwortung gewichtet sind.

•  Selbstverständlich bekamen wir auch ein neues Schrecknis des Jahres: Nachdem Acrylamid zwar wissenschaftlich, aber zu kompliziert und schwer zu behalten war, wurde uns H5N1 zuteil, die gemeine Geflügelgrippe. Den mutierten Virus, der von Mensch zu Mensch hupft, gibt es zwar noch nicht. Und folglich erst recht noch kein Gegenmittel. Das hinderte uns aber nicht, der notleidenden Pharmaindustrie durch massenweisen Kauf des (gegen H5N1 garantiert unwirksamen) Grippemittels Tamiflu beizustehen. Und das gute alte Motto HDAV (Helft Den Armen Vögeln) wurde neu belebt, indem unser Federvieh sorglich vor tückischer Zugvogelscheiße geschützt wurde.

•  Beim Wetter setzte sich der Trend der Vorjahre fort. Auch die "gemäßigte Zone" läßt es merklich an Mäßigkeit vermissen. Wasser gab an manchen Stellen weit mehr als erwünscht, während es an anderer Stelle sehr vermißt wurde. Zwar entkamen wir knapp einer weiteren Jahrhundertflut, aber immerhin gab es für ein paar Tage einen Jahrtausend-Sommer, dazu noch ein paar Tornados zur allmählichen Gewöhnung. Und der Winter wurde im Münsterland beim Thema 'Strom' auch mal richtig ausfallend.

•  Kurzum: Es war ein buntes Jahr mit genug Gesprächsstoff. Es gab Action, Spannung, manches war zum Lachen, anderes zum Weinen, wir hatten Gelegenheit für Entrüstung und Zorn, Bangen und Erleichterung – also genau die Mischung, die einen guten Film ausmacht.

•  Das Orakel: Die inszenierte Freude, Gastgeber für die Fußball-WM zu sein, wird uns noch gründlich verhageln – und die Zeit bis zu einer eventuellen Verfilmung wird lang. Die Bereiche Globalisierung, Kapitalismus, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Integration, Einkommen, Arbeitslosigkeit und Demoskopie lassen sich ebenso wie das Wetter in einem Punkt sicher vorhersagen: Es wird deutlicher werden. Vermutlich wird ein telegenes Brot mit seiner Prophezeiung recht behalten: "Alles wird wie immer – nur schlimmer."

•  Meine Perspektive ist daher schlicht. Die Zeiten fordern (und fördern) den Humor. Ich habe bereits das vergangene Jahr geliebt, wie man ein krankes Kind liebt. Und da die Zeichen eine Besserung nicht erwarten lassen, werde ich es mit dem neuen Jahr einfach ebenso halten. Daß ich dies voller Freude und unerschütterlicher Zuversicht tue, mag wunderlich erscheinen – aber hier verweise ich einfach auf meine Narrenkappe.

Januar 2006