Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
 
Bundestags-Wahl 2oo5
   
Wieder einmal werden wir in feierlichem Ton zur Urne gerufen. Wieder einmal werden wir gebeten, unsere Stimme abzugeben – und dann für die nächsten Jahre bitte nicht mehr zu erheben.
Bei den großen Parteien steht wieder einmal die Frage zur Wahl, wie sehr Kapitalismus es nötig habe, zu armen Leuten nett zu sein. Bei den kleineren können wir wie bisher wählen, ob Details der "großen Politik" sich der eher der Verantwortung oder dem Fortschritt widmen sollten; Neu im politischen Karussell ist allerdings die Position, daß man nackten Leuten nicht in die Tasche greifen könne. Am Rande fehlen natürlich nicht die Altbekannten, die gerne nach oben schimpfen und ebenso gerne unten jemanden zum Treten haben möchten. Und jede Menge spezielle Anschauungen, deren Anliegen doch bitte mal bei den "Großen" Gehör finden sollte.
Der Unterschied zu den meisten Wahlen vergangener Jahrzehnte besteht darin, daß es uns im Westen mit den Jahren nicht mehr automatisch besser geht, während der Osten endgültig aufgehört hat, auf blühende Landschaften zu hoffen (die offenkundig erst hinter der Landesgrenze beginnen). In dem Maße, in dem der Wohlstand schrumpft (oder gar nicht erst eintrifft), wachsen Existenzfragen. Wenn dieses Land nicht zu den Verlierern eines inzwischen globalen Kapitalismus gehören will, sind wohl noch einige Anpassungen notwendig. Das zänkische Gerangel darum, was wann wo wie (und wie sehr überhaupt) geändert werden müsse – und wer das bitte bezahlen soll, mündet als neue Frage in die Entscheidung des demokratisch mündigen Bürgers. Lautete die bis neulich noch: "Welche Partei vertritt meine Interessen am besten?", so heißt sie heute: "Welche Partei wird mir wohl am wenigsten wehtun?".
Der Wahlkampf spiegelt dies deutlich. Lange Jahre ging hauptsächlich um die Personen der jeweiligen Spitzenkandidaten, einige berechtigte Forderungen, garniert von ein paar Details in speziellen Zukunftsmodellen (deren Unterschiede nur Fachleute begreifen). Zum Ausgleich gab es ein paar schöne Wahlversprechen (die bekanntlich seit jeher eher schlecht als recht erfüllt werden). Man wählte ohnehin eher standesgemäß. Im Jahrtausend der schlechten Nachrichten angekommen, geht es nun ans Eingemachte. Es geht um Arbeit und Geld. Es geht um Angst, und manche Partei setzt diesen Umstand ungeniert im Wahlkampf ein.
Überzeugender als die beklemmende Aussicht auf neue Einschnitte oder die Drohung, "die Anderen" würden es noch viel schlimmer machen, wären allerdings deutlichere Profile. Wohltuend wären Parteien, die öffentlich, zutreffend und verständlich sagen, wessen Interessen sie vertreten, wer hingegen ihrer Meinung nach etwas kürzer treten sollte, und wie sie sich das vorstellen. Solche Botschaften böten eine gute Grundlage für eine demokratische Entscheidung. Und schließlich könnten die Parteien auch daran gemessen werden, wie konsequent sie ihren Ankündigungen folgen, wenn sie tatsächlich regieren (und den Weg bestimmen) dürfen.
Zugegeben: Fragen zu Wirtschaft, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik sind ebenso komplex wie schwierig, und sie eignen sich im Einzelnen eher wenig zum Slogan, der Wahlen entscheidet. Dennoch hätten sich die vier größten Pateien gerade diesmal deutlicher zeigen können, ohne besonderen Schaden befürchten zu müssen. Denn das Ergebnis ändert nichts an der Vorgabe, wegen der die Wahl vorgezogen wurde.
Wenn wir das laute "Kikeriki" beiseite wischen, mit dem uns Politiker aller Lager in den letzten Wochen unablässig beglücken, sehen wir wieder, daß die übliche Hauptfrage einer Bundestags-Wahl schon längst entschieden ist. Ganz gleich, wer wieviele Stimmen bekommt: Ohne die Zustimmung der Bundesländer kann die Regierung nicht gerade viel regieren. Die Länder sind in christlicher Hand. Die Union regiert bereits indirekt: durch Ausbremsen oder Duldung.
Da wir uns diesmal nicht aussuchen können, wer unser schönes Land regiert, bleibt uns immerhin noch die Wahl, wie das geschehen soll:
Die bisherige rot-grüne Regierung darf den eingeschlagenen Weg der Reformen weiter beschreiten, weil ihr zugetraut wird, die notwendigen Einschnitte weniger tief und irgendwie netter vorzunehmen. Dabei kann sie exakt so weit gehen, wie Schwarz-Gelb erlaubt.
Eine konsequente schwarz-gelbe Regierung darf beweisen, daß die Ära des "Aussitzens drängender Fragen" bei ihr wirklich vorbei ist. Und daß sie bessere Reförmchen hat und damit mehr Arbeitsplätzchen backen kann als die jetzige rot-grüne Regierung.
In beiden Fällen wird das Land christlich regiert. Der Unterschied wird darin bestehen, wie offen das geschieht – und wer die Schelte kassiert.
15. September 2005